Theoretischer Hintergrund des Stoffmassakers

Das gesellschaftliche Paradigma von Mode ist der Ausdruck von Individualität. Der Zweck von Kleidung ist nicht nur allein seine Funktionalität zum Schutz des Körpers – mit der Kleidung, die wir tragen oder nicht tragen, kombinieren und nach Anlässen auswählen geben wir Aussagen über uns an unsere Außenwelt ab. Kleidung verrät bereits auf den ersten Blick, welche Farben wir mögen, in welchen Schnitten wir uns wohl fühlen, welche Stoffe uns gefallen.
Auf den zweiten Blick ermöglicht uns Kleidung, Einblick in den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Hintergrund der tragenden Person zu nehmen. Wie in allen Bereichen des Lebens erfahren Menschen auch in Bereich Mode und Kleidung eine spezifische Sozialisation. Diese orientiert sich an bestimmten Parametern. Als grundlegend können dabei das Geschlecht, das Alter, die gesellschaftliche Schicht und der geographische Raum genannt werden.

Das Beispiel Geschlecht

Dabei erscheint es natürlich, dass sich Menschen zum Beispiel entsprechend ihres Geschlechts kleiden. Über die Unterschiedlichkeit der Anatomie eines weiblichen oder männlichen Körpers sowie der allgemein angenommenen charakterlichen ‚Andersartigkeit’ der Geschlechter (pseudowissenschaftlich aufbereitet in Populärliteratur wie zum Beispiel von Evans, Chris: Männer sind vom Mars, Frauen von der Venus: Tausend und ein kleiner Unterschied zwischen den Geschlechtern) werden auch die Unterschiede zwischen männlicher und weiblicher Mode legitimiert. Dabei wird das Bild von männlicher Mode immer noch von klassischen Farben, Formen, Schnitten und Stoffen dominiert: dunkle, erdige Töne überwiegen in der modischen Farbpalette, die Stoffe sind zumeist stabil und undurchsichtig, die Schnitte und Formen geradlinig und ohne Verzierungen.
Die Mode für Frauen spiegelt dagegen den Charakter der Frau wieder: die schnell wechselnden Stimmungen und Launen, das Unsachliche und Ambivalente tritt in der Frauenmode in Form von extremen Mustern, farblicher Vielfalt, leichten und transparenten Stoffen sowie ausgefallenen Schnitten, die häufig die Weiblichkeit des Körper der Frau betonen oder noch verstärken, zu Tage.

Mit Hilfe von Mode werden allerdings nicht nur die Unterschiede zum Beispiel zwischen den Geschlechtern visualisiert. Mode dient darüber hinaus als ein Machtmittel, das Menschen insbesondere in der jüngeren Neuzeit buchstäblich in Käfigen einsperrte, sie bewegungs- und handlungsunfähig machte und ihre Körper verformte. Auf der anderen Seite ermöglichte Mode und modische Accessoires politische und wirtschaftliche Macht und Stärke zu veranschaulichen.(Wer Lust hat sich weiter über Mode und Geschlecht in Vergangenheit und Gegenwart zu informieren kann das gerne hier:( Diplom-Arbeit: Die Konstruktion von Geschlecht durch Mode)

In der Gegenwart funktioniert das Herrschaftsinstrument der Mode nicht mehr so offensichtlich. Trotzdem wirken die Bilder von Männern und Frauen, die sich in und durch Mode manifestiert haben auch in der Gegenwart weiter und formieren auf subtile Art und Weise ein hierarchisches System.
Dieses System funktioniert nicht nur allein in Bezug auf die Ordnung der Geschlechter, sondern auch auf die Hierarchisierung von Alter, Klassen und dem, was gesellschaftlich normiert als Ästhetisch gilt.

Was nun/tun?

Das Stoffmassaker hat sich zum Ziel gesetzt, Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was sich Menschen in und durch modische Schemata geschaffen haben. Es soll dabei helfen, ein kritisches Bewusstsein für die Mechanismen der Mode zu entwickeln. Gleichzeitig soll es Impulse für einen alternativen, kreativen und selbstbestimmten Zugang zu Kleidung und ihrer Herstellung geben.
Die Methode dazu ist folgende: In den von mir gesetzten Kategorien werden gesellschaftliche Parameter in Mode thematisiert. Zur Disposition stehen Ästhetik, Alter, Geschlecht und gesellschaftliche Klassen. Dabei werden die in diesen Parametern enthaltenen Dichotome (Häßlich und Schön, Alt und Neu, Mann und Frau, Unten und Oben) miteinander kombiniert und entziehen sich auf diese Weise einer klaren schematischen Einteilung. Sie sind weder noch – weder männlich, noch weiblich; weder schön, noch hässlich; weder neu, noch alt; weder proletarisch noch bürgerlich. Damit sind sie niemals tragbar – oder immer!
Die sprachliche Übersetzung der modischen Grenzauflösung findet ihren Ausdruck in den von mir gesetzten neologistischen Kategorien: schö’häßlich‚ reNew’ol, GenderBender und Proletagoisie zu denen das Stoffmassaker jeweils thematisch Stellung beziehen wird. Die Mode, die dabei entsteht, lädt ein sich bewusst, singluär und jenseits modisch-normierter Vorstellung zu kleiden.

GenderBender

Unter der Überschrift ‚GenderBender’ werden die oben beschriebenen visualisierten Zeichen von Männlichkeit und Weiblichkeit miteinander verschmolzen. Ein Ausblick: Schlipse werden zu Kleidern und traditionell ‚männliche’ Schamkapseln bevölkern Kleider und Oberteile für Frauen. Für die Männer gibt es Sixpack-Bäuche aus BH-Einlagen und Korsetts mit Schwalbenschwanz für die formvollendete Figur (inklusive ein kostenlos erworbenes Gefühl für unbequeme Frauenkleidung).

Schö’häßlich

In ‚Schö’häßlich’ werden diverse Themen modisch andiskutiert. Ein Schwerpunkt wird dabei auf die Thematisierung des ‚Sizism’ und die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich hegemonialen Körperidealen bilden: dem über die Modeindustrie vorgegeben Primat des abgemagerten Körpers werden dabei in Kleidung geschaffene überproportionale Körperentwürfe, anatomische Verformung und modische Krampfadern gegenübergestellt, die das Schönheitsideal als beliebig konstruierbar dekonstruieren.

Ein anderer Schwerpunkt im ‚schö’häßlich’ soll die Auseinandersetzung mit dem Thema Militarismus bilden. Dabei geht darum aufzuzeigen, das die ‚hässliche’ Sache – Krieg – einen Eingang in die Bekleidungskultur westlicher Gesellschaften gefunden hat, zum Beispiel über den Matrosenanzug der kaiserlichen Marine oder den Camouflagesachen der Bundeswehr, deren Jacken und Rucksäcken allgegenwärtig getragen werden. So wird Kampfkleidung, die in einem bestimmten Sinne konzipiert wurde – nämlich der Ausübung von Gewalt – als funktional, sportlich, sogar attraktiv legitimiert in den Alltag integriert. In der modischen Auseinandersetzung mit Militarismus und Uniformen soll das Intentionale dieser Bekleidungsform herausgearbeitet werden und Impulse zur gedanklichen Beschäftigung mit den Risiken einer Mode, die für Aggression und Gewalt steht und ihrer gesellschaftlichen Verbreitung gegeben werden.  Auf der anderen Seite kann auch hier wieder dem Thema Militarismus mit Hilfe eines dekonstruktivistschen Impetus seine inhaltliche Schärfe genommen werden. Die Idee ist dabei, über die Kombination von Tarnkleidung und Merkmalen ‚weiblicher’ Mode (florale Muster, leichte Stoffe, Pastelltöne, Schleifen, Plüsch,….), ‚männliche’ Kampfbereitschaft und Aggressionsverhalten in die Lächerlichkeit und Banalität zu überführen.

reNew’ol

reNew’ol bezeichnet die Idee der modischen Verknüpfung zwischen alt und jung, der Vergangenheit und der Gegenwart.  Es ist der Versuch einer modischen Annäherung an das Thema des Ageism in der Gesellschaft. Es soll eine modische Brücke geschlagen werden, zwischen der Kleidung des Senior_innentreffs und der Mode der Jugendclubgänger_innen. Frische Designs mischen solange die Pastelltonwelt mit ihren Hahnentritten und Geranienmustern der älteren Generation auf, bis Kleidung entsteht, die die in Mode visualisierten Altersgrenzen überwindet und für alle Altersgruppen tragbar ist.

Proletagoisie

Die Proletagoisie bearbeitet das Thema der gesellschaftlichen Klassen. Kleidung gibt über ihre Semiotik, also die Sprache der Zeichen, Auskunft über den sozio-kulturellen sowie finanziellen Hintergrund der sie Tragenden. Bestimmte Kleidungsstücke – wie zum Beispiel der Blaumann oder das Ballkleid – können eindeutig einer spezifischen Berufsgruppe beziehungsweise gesellschaftlichen Klasse zugeordnet werden.
In der Proletagoisie werden die Grenzen zwischen dem gesellschaftlichen Oben und Unten aufgelöst: Arbeitskleidung wird zur ‚Arbentskleidung’. So kollidiert zum Beispiel der Blaumann, mit seiner problematischen Vergangenheit aus Mühsal und Dreck seines/r Trägers/Trägerin mit den Müßiggängerin Spitze und Seide und verwandelt sich in ein Kleidungsstück, das elegant ist und doch die Zeichen körperlicher Arbeit nicht leugnen kann. Dabei entzieht es sich dem, was gesellschaftlich als legitimer (bürgerlicher) oder illegitimer (proletarischer) Geschmack (Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Paris, 1971) angesehen wird – seine Ambivalenz macht ihn zu einem singulärem, extravagantem und doch lebensnahen stofflichen Grenzgänger gesellschaftlicher Klassen.

Ein Wort zur Herstellung, Materialien,…

Alle verwendeten Materialen des Stoffmassakers sind aus bereits getragenen Kleidungsstücken. Diese Herangehensweise soll dazu beitragen, ein Bewusstsein und eine Wertschätzung für Kleidungsstücke zu entwickeln, die gerade weil sie eine Geschichte in sich tragen, einzigartig und wertvoll sind. Dieser Ansatz kann daher auch als ein Gegenentwurf zum wirtschaftlichen Paradigma der Angebotsorientierung und des schnellen, kurzfristigen Konsums verstanden werden.
Dabei stellen die vorgegebenen Schnitte und eingetragenen Formen der zum Stoffmassaker freigegeben Kleidungsstücke auf der einen Seite eine Herausforderung der Integration der Geschichte in das neue Design, auf der anderen Seite einen kreativen Impuls dar. Die Verarbeitung richtet sich nach den Vorgaben der Stoffen, aber immer nach dem Motto: „Was nicht passt, wird passend gemacht.“ Auch im Hinblick auf den handwerklichen Vorgang des Nähens sollen nicht die herkömmlichen Kriterien des Schneiderhandwerks gelten, die durch ihren schematischen, strengen Zugang zur Herstellung von Kleidung wenig Möglichkeiten zur freiassoziativen, kreativen Arbeit zu lassen, sondern vielmehr: Die Form folgt dem Inhalt.